Rede eines Mitglieds der jüdischen Stimme auf der Bremer Kundgebung vom 5.4.2025

Ich bin hier nicht als Expertin. Ich bin hier als eine amerikanische Jüdin, die in Bremen lebt und die sieht, was wir alle sehen, die über die genozidalen Gräueltaten des israelischen Regimes in Gaza liest: so viele Zehntausende Tote, Journalist*innen und Ärzt*innen, die ins Visier genommen werden, Sanitäter*innen, die erschossen und mit ihren Krankenwagen begraben werden, ganze Familien, die im Schlaf getötet werden, Kinder, die verhungern. Es ist ungeheuerlich und unbegreiflich. Als Steuerzahlerin sowohl in den USA als auch in Deutschland mache ich mich finanziell mitschuldig an diesen Verbrechen. Als Jüdin bin ich empört, dass der Staat Israel vorgibt, diese Gräueltaten in meinem Namen zu begehen, zu meiner Sicherheit und zur Sicherheit der Jüdinnen und Juden weltweit und dass Deutschland diese Lüge unhinterfragt akzeptiert. Zusammen mit Tausenden von Jüd*innen auf der ganzen Welt lehne ich den absoluten Trugschluss ab, dass unsere Sicherheit in irgendeiner Weise durch die Ermordung, Vertreibung und Unterwerfung der palästinensischen Bevölkerung gewährleistet ist.

Als Jüdin in Deutschland bin ich hier, um mich gegen die alltägliche Unterdrückung und Verunglimpfung von palästinensischen, arabischen, und muslimischen Menschen in der deutschen Gesellschaft auszusprechen, die sich als Schutz jüdischen Lebens in Deutschland ausgeben, sowohl auf der politischen Rechten als auch auf Großflächen der politischen Linken. Ich bin hier, um zu sagen, dass jüdisches Leben nicht durch die Gleichsetzung von jüdischen Menschen mit dem Staat Israel oder mit Zionismus geschützt wird. Und ich bin hier, um zu sagen, dass palästinensisches Leben nicht weniger schützenswert ist als jüdisches Leben.

Als Jüdin bin ich empört, dass der Vorwurf des Antisemitismus als Waffe eingesetzt wird, um Palästinenser*innen und alle, die sich mit ihnen solidarisieren, zum Schweigen zu bringen, zu bedrohen, zu verhaften und abzuschieben. In Deutschland, wie auch in den Vereinigten Staaten, kriminalisieren die staatlichen Behörden zunehmend Kritik an Israel, an seinen Kriegsverbrechen, Besatzungspolitik und Apartheidsystem, indem sie diese als antisemitisch abstempeln. Natürlich wird auch jüdische Menschen ausgerechnet in Deutschland Antisemitismus vorgeworfen, wenn sie sich gegen den Staat Israel aussprechen. Die zynisch betitelte Bundestagsresolution „Nie wieder ist jetzt – jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“, welche die jüdische Meinungsäußerung ebenso zensieren würde wie die aller anderen, reduziert jüdisches Leben auf die unkritische Unterstützung des Staates Israel und übersieht dabei völlig, dass „Nie wieder“ für alle Menschen gelten sollte; „Nie wieder“ ist die Verantwortung Deutschlands, sich gegen Faschismus, Entmenschlichung und Völkermord zu wehren, wann und wo immer er auftritt, und ja, nie wieder ist jetzt.

Anstatt die Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland zu fördern, schürt die Resolution vielmehr das Misstrauen gegenüber Asylbewerber*innen und Zuwanderer aus muslimisch geprägten Ländern indem sie ihnen vorwirft, Antisemitismus nach Deutschland zu importieren.  Sie droht, die Meinungsfreiheit weiter einzuschränken und gleichzeitig rechtsgerichtete Überwachung und Repression zu normalisieren. Die Resolution zu den Schulen und Hochschulen von Ende Januar ist in weiten Teilen dasselbe, wobei die Bedrohung der akademischen Freiheit noch scharf verstärkt wird. Während palästinensische, muslimische, und arabische Menschen in Deutschland seit langem von Strafgerichten und Migrationsgesetzen diskriminiert, verhaftet und abgeschoben werden, erleben wir jetzt, dass auch Aktivist*innen mit EU- und US-amerikanischem Pass wegen ihrer Protestaktionen in Solidarität mit den Palästinenser*innen abgeschoben und des Antisemitismus beschuldigt werden. Es darf kein Zweifel daran bestehen, dass die einzigen Gewinner in diesem Szenario die Rechtsextremisten sind, deren Ideologie gestärkt und normalisiert wird und die die Ablenkung ihres eigenen Antisemitismus auf Migranten, Flüchtlinge und Linksaktivisten fast so sehr lieben, wie sie es lieben, sie hinausgeworfen zu sehen.

Als Jüdin in Deutschland habe ich keine Angst vor meinen palästinensischen und muslimischen Nachbar*innen oder vor ihren Rufen nach Gerechtigkeit. Ich habe Angst vor dem Rechtsruck in der Gesellschaft Deutschlands und dem Abgleiten in den Autoritarismus. Ich habe Angst, unsere demokratischen Rechte zu verlieren. Aber vor allem habe ich Angst um die Menschen in Gaza, und Angst, dass Deutschland nichts tun wird, um den Genozid zu beenden. Danke und Free Palestine.